T wie Texte

tom otto – oder die ordnung der dinge
zur eröffnung der installation wie bringt man ein gewitter zur sprache im garten des klinikums lehrte, 06. IX. 2009.

das erste mal einer arbeit von tom otto begegnet bin ich im wald- und wiesenweiten westlichen westfalen in form eines schiffes. und das kam so:
beide waren wir für den spätsommer oder frühherbst 2001 mit einem kleinen arbeitsstipendium im künstlerdorf zu schöppingen bedacht worden. für mich eine der wunderbarsten phasen meines bisherigen daseins, was nicht in erster linie an der begegnung mit tom otto lag – aber doch spätestens in zweiter. tom otto jedenfalls reiste damals in einem schon deutlich von arbeit gezeichneten, aber noch immer weißen lieferwagen an, randvoll mit arbeits- und mehr noch: lebensutensilien, weil man in solchen stipendien (böse aber gescheite zungen nennen sie auch künstlerlandverschickung) oftmals auf den zivilisationsstand eines campingurlaubs zurückgeworfen wird. der wagen ist mittlerweile in ehren abgewrackt, überstand, wie ich hörte, aber in seinen letzten jahren noch die eine oder andere reise gen osten und zurück. dieses künstlerdorf also, in das es uns damals zufällig zur gleichen zeit verschlug, verfügte über eine kleine werkstatt mit kreissäge, standbohrer und allerlei schleifgeräten, die offenbar aber von den meisten vorangegangenen künstlergenerationen schnöde verschmäht wurde, wohl auch deswegen, weil die bildenden künstler der späten neunziger und frühen nuller jahre eher auf reine konzepte und viel video, denn auf werkstätten setzten. tom otto allerdings setzte entschieden auf die werkstatt und besetzte sie kurzerhand, was für ihn erstmal bedeutete, die offensichtliche verwahrlosung in einen bespielbaren zustand zu verwandeln.

eines nachmittags ging ich im künstlerdorf spazieren. als dichter verbringt man in diesen stipendien viel zeit damit, zeit zu verbrennen, in der hoffnung auf dieses kleine zeitfenster irgendwann am tag oder in der nacht, das ein effektives arbeiten dann tatsächlich ermöglicht. ich habe die bildenden künstler schon immer um den handwerklichen, besser: handgreiflichen teil ihrer arbeit beneidet.

dieses künstlerdorf in schöppingen ist ein umgebautes großbäuerliches gehöft aus dem neunzehnten jahrhundert, mit haupt- und nebengebäuden, ehemaligen stallungen, obstgärten und überhaupt viel grün, so daß spaziergänge zum zwecke der zeitverbrennung eine sehr naheliegende handlungsoption waren. auf einem dieser spaziergänge kam ich an besagter werkstatt vorbei und beschloß, dem offenkundig dort drinnen werkelnden kollegen, guten tag zu sagen.

tom otto stand inmitten von diversen gerätschaften, zugeschnittenen mdf-platten, leim- und spann-vorrichtungen, knöcheltief in staub und spähnen, rauchend mit einer knappen kappe auf dem kahlrasierten schädel und sah – abgrundtief zufrieden aus.

erst nach einer weile fiel mir auf, an was er da eigentlich arbeitete. 
er baute ein schiff.

coolness erfordert noch immer contenance. coolness war damals die bevorzugte währung, und so verkniff ich mir vorerst meine verwunderung, fragte mich aber während der nächsten wochen fortan insgeheim, warum jemand in der tiefsten westfälischen provinz am rand der baumberge umgeben von ackerbau und viehzucht – transporter voll schlachtreifer schweine lieferten uns nicht selten den schreienden soundtrack aus kreatürlicher todesangst zur nacht – warum also ausgerechnet hier jemand auf die idee verfällt, schiffe zu bauen?

die antwort erhielt ich gegen ende des stipendiums. tom otto bereitete in der dem künstlerdorf eigenen galerie, einem umgebauten stall, seine abschlußausstellung vor. ich bot mich – von wegen zeitverbrennung, ablenkung und scheinproduktion – zur aufbauhilfe an und erhielt so einige einblicke in seine arbeitsweise, die bis heute meine rezeption vor allem seiner installationen beeinflussen. erster eindruck: eine nahezu manische präzision. neben besagtem schiff, auf das ich gleich noch zurückkommen werde, spielte vor allem ein domestizierter birkenwald eine rolle. dieser bestand aus unzähligen birkenästen, trotz ihres irregulären wildwuchses auf eine länge getrimmt und aufrecht zwischen zwei mindestens je vier meter langen regalbrettern an die stirnwand der galerie gedübelt. der wilde waldwuchs gezähmt im sideboard, sozusagen. nicht nur der zuschnitt des gehölzes war äußerst exakt, auch die ausrichtung des wandmöbelwaldes geschah milimetergenau, nahm stunden in anspruch und dominierte schließlich den gesamten raum als sei er schon immer teil der stirnwand gewesen. erst nach und nach nahm ich wahr, daß sich über den boden der galerie ein flußlauf aus trockenem herbstlaub wand. wir hatten mittlerweile anfang oktober, und das grün ringsum warf reichlich gelb, rot und braun ab. auf diesem flußlauf aus laub schließlich fuhr in seiner ganz eigenen erhabenheit eben jenes schiff quer durch den hauptraum der galerie. und plötzlich hatte ich keine fragen mehr; denn die ganze inszenierung war so fraglos plausibel, so unmittelbar sinnlich einleuchtend, daß alle fragen sich erst als eine art gnädig gewährtes surplus in einem umso größeren gedanklichen freiraum später, sehr viel später ergaben. zum beispiel die frage nach dem zustandekommen dieser selbstverständlichkeit.

es gab seither weitere anlässe für solcherlei verblüffung. zum beispiel die hainbuchengestrüppe um eine tafel versammelt unter den toten augen einer jagdtrophäe oben an der wand in der rauminstallation deutsche landschaft im wilhelm-busch-museum in hannover von 2006, oder hase und igel als bettpfosten in die dinge in deinem zimmer im salon salder, salzgitter 2007. vor ziemlich genau einem jahr dann die kellerinstallation amstetten in der galerie vom zufall und vom glück in hannover, wo das verblüffungsmoment vor allem in der gleichzeitigkeit von verspieltheit und urängstlicher beklemmung lag, und wo man sich überhaupt nicht wunderte, daß einen plötzlich aus einer dunklen raumecke heraus neuerlich ein streng blickender hase musterte. dann unlängst erst im park vor dem wilhelm-busch-museum, in dem eine horde von knapp 400 stühlen eine alte doppelstämmige eiche eroberte, wie eine ameisenarmee zunächst schnurgerade auf die stammbasis zulief, sich dort akkumulierte, sich gegenseitig überstieg, um schließlich den baum bis in die krone hinauf zu besetzen.

starke bilder und nachhaltige eindrücke allesamt, zu deren entstehung ich jedoch nie irgendwelche zweifel hegte oder auch nur leichte fragen erwog. etwa: warum die stühle im baum, warum das schiff auf dem laub, und was zum teufel soll überhaupt der hase? die präsenz der bilder in ihrer selbstbewußten behauptung war jedesmal so unzweifelhaft, daß ich nicht den geringsten anlaß hatte, über ihr zustandekommen zu raisonnieren, sondern mich stattdessen allein ihrer wirkung überlassen konnte.

ich habe eine vermutung, woraus die selbstverständlichkeit dieser präsenz resultiert: tom otto als künstler ist eine art ordnungsfanatiker. nicht in dem sinne, daß er die dinge seiner lebens- und arbeitswelt der größe oder farbe nach ordnen müßte, daß er einen minutengetakteten terminkalender führte oder dergleichen neurotische verhaltensweisen mehr. nein, er muß – daher der „fanatiker“ - geradezu zwanghaft die im grunde so disparaten dinge seiner lebenswelt in eine neue, sinnlich erfahrbare ordnung fügen, sinnstiftende zusammenhänge erstellen. und zwar eben nicht nach vorgegebenen regularien, sondern nach eigenen, willkürlichen, in höchstem maße – und im wortsinn – poetischen maßgaben. seine ordnungsprinzipien heißen bild- und traumlogik, heißen wille und vorstellung, heißen möglichkeit und poetische potenz. das pingelige in fragen der aufbaupräzision ist später dann nurmehr symptom, kaum noch ursache.

nicht zufällig entstehen viele seiner arbeiten aus vorgefundenen materialien, aus readymades quasi, aus dingen, die sich in der unmittelbaren lebenswelt finden lassen, oftmals natürliche, organische materialien, weil das organische sich meistens gefügiger gibt, als das anorganische. und doch werden auch alle vorgefundenen materialien nochmals in „die mache“ genommen, re-made readymades, gewissermaßen; das material erfährt auf diese weise also in der konkreten inszenierung eine völlig neue semantische aufladung. nicht zufällig sind die mitunter gar nicht so rätselhaften titel seiner arbeiten teil der inszenierung selbst, und nicht zufällig wird zuweilen eben die schrift auch ein bestimmendes element der installation; weil die schriftsprache als mehr oder minder willkürliches zeichensystem das abstrakte ordnungsprinzip schlechthin darstellt. und nicht zufällig fiel mir erst nach stunden auf, daß der baum und die stühle nur zwei unterschiedliche aggregatzustände ein und desselben materials darstellten.

nun also nochmal die stühle. werfen sie einem künstler bitte niemals die mehrfachverwertung seines produktionsmaterials vor. künstler sind prekäre existenzen, doch sie wirtschaften von sich aus gemeinhin effektiver als banken oder großkonzerne. außerdem sind stühle ihrem bildwert nach eigentlich kaum zu bezahlen. wer also als künstler über stühle verfügen kann, sollte sie bitteschön auch ausgiebig bis verschwenderisch nutzen.

hier finden sich die stühle in einem kreis zusammen. das heißt: ob sie sich tatsächlich zusammen finden, ist noch lange nicht ausgemacht. vorerst bilden sie in ihrer anthrazitenen uniformiertheit verbindlich einen kreis. verbunden sind sie, jenseits der inszenierten formation, durch unbehandelten eisendraht, der zeit und dem rostfraß anheim gegeben, die schnittstellen und knotenpunkte mit glasperlen markiert.

wieder so ein sich fraglos selbstbehauptendes bild. die eindringlichkeit dieser bilderfahrung könnten wir, die wir die installation betrachten, wenn wir wollten, im kollektiv teilen. wir könnten uns über kommunikationstrukturen unterhalten, über deren funktionieren und versagen. wir könnten uns in allerlei assoziationen verstricken, wie sich auch die eisendrähte in ihrer inszenierung wunderbar wirr verwickeln. mit der eigentlichen wirkung dieser installation allerdings stehen sie und ich fürderhin ziemlich alleine da. hier hilft selbst die sprache nicht weiter. und eben darin besteht – soweit hänge ich mich aus diesem kleinen zeitfenster – gute kunst; die muß man im zweifel auch einfach aushalten können.

und wenn sie gleich hier nebenan stühle im boden versinken oder aber aus dem erdreich wachsen sehen, je nach perspektive; wenn sie demnächst unweit von hier, nahe dem gipfel eines kaliberges auf einen doppeldeckerbus stoßen werden, besetzt mit tieren aus holz und fell, als letzte ihrer art in einer vermeintlich absurden arche, werden sie das alles dennoch für wahr nehmen können, weil es sich um die poetischen arbeiten von tom otto handelt. den können sie getrost für wahr und wirklich nehmen, denn er weiß, was er tut.



Nicolai Kobus, Lyriker, Autor