T wie Texte

wie sah wie
abschweifungen und assoziationssplitter vor dem wandbild von Tom Otto

16.9.'96, nachmittags
tiefe, sehr verehrte damen und herren, liegt hier vor der nase und mißt etwa einen arm lang, einen herrenarm oder damenarm, auch ein heftig gestrecktes kinderärmchen lang tief. das bild ist übermenschliche 2,95 m hoch und in vier aneinandergelegten tafeln, segmenten, zusammen 6,30m breit. ich gucke, sehe: wirbel, wirbelsäule, lendenwirbelausschnitt, letzter, erster, dicht unterm steiß, da ist der ausgang, die durchbruchsteIle, mittel- und brennpunkt, ein verschliertes fernöstliches symbol. doch schon verwischt sich's, nebensächlich, rückt weg.
sonnenuntergang.
panorama einer welt im rückblick, das nachträumende auge malt sich das gelände, und die blicke verfangen sich im gehen, im stehen bleiben vor den tafeln, die sich unter halbgeöffnetem lid flimmernd zum rund dehnen, ich stehe in einer rotunde, bin die feststehende, schwankende mittelachse, es dreht sich schneller und schneller, rast stehend und dazwischen - die schwindelnd ruhige gelbgrüngraue schwebefläche vomlidschlag durchzuckt. aus der form geraten, erkaltet, ruß und rost, zerfasert, verbogen, zerdehnt, abriebflächen, eisengedärm, brüchiges leder, gummi, porös, freigelegte tote nervenbündel, muskelschrott, zerrissene aorten, ölige schmierspuren, teer, ausgehärtetes fett, dreck. seltsame spiegel geschmolzenen metalls. dazwischen, wehmutvoller glanz einer lang zum stillstand gekommenen maschinerie, die sich weiterträumt, aus dem zweck entlassen, ausatmet, wegbricht. vier tafeln. sechs schnittkanten stoßen aufeinander. weltbaukastensegmente. so, so gehören sie zusammen, nicht anders, auf dieser oberfläche. die mitte schneidet den freiraum wuchernder spuren, glutränder. von schräg links kommt licht, aber woher, leuchtet magisch nach, helles schmutzorange im aderngeflecht. räumlich, durchaus räumlich, ach, perspektive, ja, die gedachte, ja, die und was sie, die damen und herren, sehen, wie sie sehen. ansonsten, alles auf engem raum gestaucht und dazwischen platz fürs gedachte, fühlruhepole hinter ausgewaschenem tannenbaumgrün, eisheißblaugebogenem, die traumschmale, überlanggezogene katzenpupille.

19.9.'96, nachmittags
meine augen wandern unentwegt von rechts nach links, von rechts nach links, bleiben nicht richtig hängen, gleiten über das gelände. ja, das ist es, noch einmal: eine gestrandete hoffnung und die jahrhundertenden winken sich zu, abgewickelte bänder, abgenutzte transmissionsriemen, durchgescheuertes material, quer durch die wüste der geschichte. eine schicht des erdkalenders lagert sich ab. 
hier, in diesem bild, ist schon alles geschehen, längst passiert. das spektakuläre ist vorbei. kein sonntag, kein alltag. endloses ausatmen. ein panorama der aussparungen. erstarrtes, rätselloses schwarz. aussage-, absageweißer hintergrund. dünnstes hauchblau. gedankenfarben. und alles, alles ist eine ungetrennte fläche. alles ist gleichzeitig. Hierarchien aufgelöst. die schnitte sind willkür der umstände, narben, die nach längerer betrachtung unter meinen halbgeschlossenen lidern zuwachsen. es fällt nichts auseinander und alles zerfällt.
leinwand, einwand, inwand, nwand, wand, and, nd, d.
übriggeblieben vom großen fraß, aufgetafelte reste, skelette, kehrricht, illuminierte gedankenflächen in der ödnis. kein mensch, kein tier, keine pflanze. schattenlos. von keinem blick, keinem finger berührt. und doch, da war, da ist ein gedächtniston, bizarr hingetuschte japanische lineatur schlägt ein unhörbares ping!
an, das, einmal wahrgenommen, endlos nachschwingt im raum, anstößt, zurückgeworfen sich verdoppelt, vervielfacht zu einem flirrenden grillen unter rätselhaftem licht, sonnenuntergang, sonnenaufgang, gleichgültig, gleich gültig in dieser leere, wo allenfalls die dünnen nervenfäden schwäche zeigen, sich auszuruhen in den leerstellen.
nach einer lausigen nacht, frühmorgens an der rückwand einer fritten bude lehnen und auf den gegenüberliegenden autofriedhof starren, bis die bude öffnet und der erste bus den nachtvogel zurückbringt.

23.9.'96, nachmittags
von rechts dreht, drückt, dröhnt, quetscht massiv, mit hoher beschleunigungsgewalt, irgendein teil einer monströsen turbine ins bild, staucht schmatzend alles im bildraum zusammen. von rechts, auflerhalb des bildes, drängt das weggelassene herein, das ausgesparte, das zeitgewicht, das abgeschnittene, cut and stop.
achtung. die vergleiche kommen.
es bebt förmlich. vorvorvorhergesehenes schiebt sich ein. mitgebrachtes vom betrachter und ausgewickelt, mahlzeit. und wer faselt da was vom ersten blick. von wegen jungfräulich. Soviel shit kannst du dir gar nicht einpfeifen, um die sicht freizubekommen. wir starren durch überlagerungen, ein spiralnebel bedruckter, übereinander haftender klarsichtfolien. Ja, wisch &. weg, das wär's.
einmal mit dem fahrstuhl ins oberste stockwerk fahren, aussteigen und so schnell wie nur möglich die große treppe hinunterlaufen (nun habe ich dies treppenhaus doch erwähnt, sorry) bis auf die straße und dann sagen, welches bild, welche bilder, jetzt, in dem moment in dir haften geblieben. jeder betrachter, teilnehmer, konsument von kunst, jede und jeder, aber sicher, muß sich immer wieder aus den gewohnten wahrnehmungsbahnen werfen. jawohl, sehr geehrte damen und herren: wahrnehmungskünstler werden. wenn ich einen satz ganz locker zu einem handlichen manifest beizusteuern hätte, dann diesen herzensstoß: wahrnehmungskünstler werden. ach, sie können den treppenhausvorgang auch umdrehen: hinauflaufen, rennen und beim hinabfahren, klopfenden herzens im fahrstuhl das haften gebliebene sortieren.
die bilder kommen. Weiter, vorwärts, von rechts nach links. schwer hochgezogenes netz, naß, von mattem licht durchschossen, seewassergrün. ein bündel nervenstränge, diffuses lethegrün. ein karg beschmückter weihnachtsbaum, blasses tannengrün. nacktes geäst einer baumhütte.
maulschaum, sattelzeug riß, flog seitlich fort, steigbügel, riemen, bänder, gepäckaufsatz. oder doch zersprengte überreste eines weggeschleuderten motorrades mit überdimensionalem auspuff, glühend, erkalteter motorblock, vor dem zikadenhaft sich eine japanische spielerei ereignet.
bildersuchspiel: einladung ins panorama.
vertrieben aus den eindeutigkeiten, keine hauptstraße der bedeutung mehr ausgeschildert, sackgassen folgen. auf bildkrücken dahin huschende, deutungssüchtige augen. Beute- und deutestücke ins verständnissäckchen sammeln. erster, rief ein kritiker, bin schon da, echote ein anderer und war nicht zu sehen.
es gibt malende, die sehen sich nach ihren bildern nicht mehr um und wenn sie davorstehen, dann sehen sie eben nicht hin.
ich sehe was, was du nicht siehst und das sich verlieren im bildgelände, im blickgelände, im gelände, hinabgleitend am geländer, hinauf.

25.9. '96, nachmittag
ich sehe was, was du nicht siehst; bisher habe ich über fünfzig menschen, manche von ihnen mehrmals innerhalb einer stunde und an den verschiedenen tagen, über den flur des 1. stockwerks an dem panorama vorübergehen sehen; ich sehe was, was du nicht siehst; kein seitenblick, das bild ist gar nicht da; ich sehe was, was du nicht siehst; keiner von ihnen hat sich in ein detail verguckt oder korrespondiert mit einem stückchen, das bild ist gar nicht da.
dies sind die idealen galeriebesucher, die bilder schauen ihnen hinterher, unbesehen erhalten sie sich eine unerhörte, niegesehene ... , eine unbesehenheit. die bilder folgen all den vorbeigehenden, verfolgen sie bis in ihre träume und, die glücklichen merken es nicht.
ich sehe was, was du nicht siehst, sagte der traum und verschwand mit seinen bildern im orkus der anderen gehirnhälfte. auf immer bewahrt, auf immer verloren.
aber leg' mal eine zerbeulte tetra pak milchtüte auf diesen flurboden und eine kleine absperrung drumherum ... hei, wie die augen immer wieder ... magisch angezogen ... te t rap a k
eiserne muskelzerfaser, absurdes rückgrad der robotergestalt, rechts oben winkelt sich ein insektenhaftes ärmchen, verkümmertes flügelchen, am schwarzen kasten körper, der sich zum linken bildrand neigt. figürlich. eine andeutung, eine erinnerung an menschliches. dies schwarz hat gar kein geheimnis. Gar keine tiefe. woher auch. wozu.
aufgeklappte architektur, auf den kopf gestellt, ein stöckchen skyline, erdwärtsgerichtetes kürzel einer weltstadt und dieser spiegel. blindes auge. eisendärme, rostige tagliatelle, robotgehirn in streifen, metallbandsalat. wenn, dann erhebe ich hier eine braue: das liegt nahe. senke sie aber sogleich, ehe ich mich in den fangstricken dieses rostnudelklumpens verheddere, vertüddele.
nein, kein abendrot, kein goldrand. ein abendschamrot vielleicht.
und eine stelle spare ich aus, ich weiß, dieses vertikale mit dem hintergründigen dunkelblau, als stecke da etwas geheimnisvolles, ganz ungewollt, aber nu ist es da, tja, immermalwiederhinsehen. aus dem bild heraus, ins bild hinein, läutet eine laterne, als hinge sie am spitzen bug eines gestrandeten schiffes. ein grobschiefes leuchtelicht, das sich das licht, das leuchten geliehen hat, es kommt von außerhalb des bildes, weit hinten im linken raum mag eine untergehende sonne sein, eine sterbende vielleicht, sie macht das schon lange, überflutete nocheinmal alles, verschwenderisch, von ihrem horizont aus. der horizont, sie sehen es, ist längst perdu, nichtmalmehr fluchtlinien, er liegt irgendwo hinterm bild, wo selbst das heftig ausgestreckte kinderärmchen nicht hinlangt und weiß doch, es muß sich nur mit der gestohlenen schulkreide eine linie auf den asphalt ziehen und zumalen, alles zumalen, zu malen, zumalen.


Oskar Ansull, 1996